Defizit-Verfahren gegen Deutschland und Frankreich
EU-Kommission klagt vor dem Europäischen Gerichtshof
Urteil des Europäischen Gerichtshof
Der Machtkampf um die Auslegungdes Euro-Stabilitätspaktes ist höchstrichterlich zu Gunsten der EU-Kommission entschieden: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) kippte 13. Juli 2004 in Luxemburg einen Beschluss der EU-Finanzminister, der die Strafverfahren gegen die Defizitsünder Deutschland und Frankreich ausgesetzt hatte. Nach dem ersten Urteil überhaupt zu dem acht Jahre alten Regelwerk gaben sich die Konfliktparteien versöhnlich. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) nannte das Urteil «eine salomonische Entscheidung». Der Finanzministerrat bot eine enge Zusammenarbeit an, um den Richterspruch in die Praxis umzusetzen. EU-Kommissionspräsident Romano Prodi versprach, mit dem Rat Lösungen finden zu wollen. (Az.:C-27/04)
Der Beschluss der Finanzminister vom November 2003 sei mit EU-Recht nicht vereinbar, urteilte das Gericht, gegen dessen Spruch keine Rechtsmittel mehr möglich sind. Der Rat durfte sich nicht von den Vorschriften des Paktes lösen, hieß es zur Begründung. Der Beschluss beruhe nicht auf einem Vorschlag der EU-Kommission, wie das die Regeln vorsehen.
Mit der damaligen Entscheidung der Minister waren Strafen für Deutschland und Frankreich in weite Ferne gerückt. Mögliche Sanktionen in Milliardenhöhe sind nun wieder greifbarer geworden. Vor acht Monaten hatten sich die Regierungen in Berlin und Paris verpflichtet, nach Jahren der Überschreitung 2005 die erlaubte Defizit-Grenze 2005 wieder einzuhalten. Sie liegt bei drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Das höchste EU-Gericht wies einen Teil der Klage der Kommission als unzulässig zurück. Die Behörde hatte sich dagegen gewehrt, dass der Rat ihre Vorschläge zur Verschärfung der Strafverfahren gegen Deutschland und Frankreich damals zurückgewiesen hatte. Die
Zurückweisung der Minister sei mit einer solchen Klage nicht anfechtbar, urteilte das Gericht.
Die Minister sind nun gezwungen, einen neuen Beschluss zu Deutschland und Frankreich zu fällen. Wann dies sein wird, ist derzeit offen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der derzeitige Vorsitzende des Finanzministerrats, der niederländische Ressortchef Gerrit Zalm. In einer von Zalm herausgegebenen Erklärung hieß es: «Der Rat begrüßt die Klarstellung. Der Rat wird in enger Zusammenarbeit mit der Kommission die Folgen des Urteils für die Anwendung ... prüfen.»
Eichel sagte, das Urteil stärke den Stabilitäts- und Wachstumspakt und verpflichte Rat und Kommission zu kooperativer Zusammenarbeit. Der Spruch bedeute zudem, dass der Pakt kein mechanisches Sanktionsverfahren enthalte, sagte Eichel in einem dpa-Gespräch in Berlin. Der Rat sei nicht verpflichtet gewesen, den Empfehlungen der EU-Kommission zu folgen. «Die Finanzminister sind und bleiben die Herren des Defizitverfahrens.» In einem Telefonat waren sich Eichel und der neue Währungskommissar Joaquin Almunia dem Vernehmen nach einig, dass das Urteil «einen Auftrag an Kommission und Rat darstellt, zusammenzuarbeiten».
Die Opposition in Berlin attackierte Eichel massiv. Der FDP- Vorsitzenden Guido Westerwelle sagte, Eichel müsse zurücktreten. Auch der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) legte seinem
Nachfolger den Rücktritt nahe. Die Union nannte das Urteil eine «schallende Ohrfeige» für Eichel. Fraktionsvize Friedrich Merz (CDU) sagte, das Urteil sei Signal für mehr Geldwertstabilität. CSU-Chef Edmund Stoiber sprach von einem «Stopp-Signal» für die Berliner Schuldenpolitik.
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat die Kritik an der deutschen Haushaltspolitik nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Stabilitätspakt zurückgewiesen. Das Verfahren richte sich nicht gegen ein einzelnes Land, sagte er. Falsch sei es daher, wenn die Opposition das Urteil Eichel «an die Weste kleben will». Frankreich reagierte gelassen auf das Urteil. Die Haushaltspolitik der Regierung sei nicht in Frage gestellt, sagte ein Sprecher von Premierminister Jean-Pierre Raffarin in Paris. Die Regierung sei weiter bemüht, die Ausgaben einzudämmen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) bleibt davon überzeugt, dass der Pakt nicht geändert werden müsse. Verbessert werden könne jedoch die Anwendung, hieß es einer Erklärung der EZB. Auch die Deutsche Bundesbank forderte eine bessere Umsetzung des Regelwerks. «Die Bundesbank ist nach wie vor der Meinung, dass es keiner Änderung der Regeln des Paktes bedarf», hieß in Frankfurt.
Zur Geschichte
Sieben Wochen nach der umstrittenen Entscheidung der EU-Finanzminister, die Defizit-Strafverfahren gegen Deutschland und Frankreich auszusetzen, beschloss die EU-Kommission 13. Januar 2002 in Straßburg eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Sie richtet sich gegen den EU-Ministerrat, nicht gegen Deutschland oder Frankreich.
Der Beschluss der Finanzminister ist nach Einschätzung der Kommission nicht mit dem Euro-Stabilitätspakt von 1996 zur Absicherung des Euro vereinbar. Dieser Einschätzung widersprach Bundesfinanzminister Hans Eichel ausdrücklich. Die Beschlüsse des Ministerrates «entsprechen dem Geist und den Buchstaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes», bekräftigte der Minister in Berlin.
Die Kommission strebt ein Eilverfahren mit einer Laufzeit von nur wenigen Monaten an. Der EuGH in Luxemburg muss über die Zulässigkeit der Klage und das Eilverfahren noch entscheiden. Laut Solbes' Sprecher ist es das erste Mal, dass der EuGH in einer zentralen Frage der gemeinsamen Währung angerufen wird. Der Kommission geht es nach eigener Darstellung um eine rechtliche Klärung der Schritte im Defizit-Verfahren, nicht um wirtschaftliche oder politische Inhalte von Entscheidungen. Eichel betonte dagegen, es sei nicht nachvollziehbar, dass die Kommission die Ratsentscheidung vom November «mit Blick auf das rein formale Entscheidungsverfahren überprüfen lassen möchte».
Die Kommission argumentiert, die Minister hätten Ende November auf der Basis des damaligen Kommissionsvorschlages zu verschärften Sparauflagen an Berlin und Paris entscheiden müssen. Die Minister blockten damals hingegen diese Empfehlung der Kommission ab und gaben den «Defizitsündern» Deutschland und Frankreich ein zusätzliches Jahr für die Haushaltssanierung. Inzwischen ist aber unklar, ob Deutschland es tatsächlich schafft, das Defizit bis 2005 unter die Marke von drei Prozent zu drücken. Eichel warf der Kommission vor, sie sei in der Sitzung nicht bereit gewesen, «einen entsprechend angepassten Vorschlag vorzulegen, der die Zustimmung des Ministerrates gefunden hätte».
Frankreich setzt unabhängig vom Gang eines Gerichtsverfahrens auf eine Reform des Stabilitätspaktes. Premierminister Jean-Pierre Raffarin wird am Mittwochabend mit EU-Kommissionspräsident Romano Prodi in Brüssel über den Stabilitätspakt sprechen. In Frankreich wird erwartet, dass selbst bei einem Urteil zu Gunsten der Kommission Brüssel die Verfahren gegen Deutschland und Frankreich erneut einleiten und dem EU-Ministerrat vorlegen müsste. Das würde Zeit lassen, den Konflikt mit einer Reform des Stabilitätspaktes zu entschärfen.
Gegen Berlin und Paris laufen Defizit-Strafverfahren, weil beide Länder eine dauerhaft überhöhte Neuverschuldung über der Grenze vom drei Prozent vom BIP haben. Es drohen in letzter Konsequenz hohe Geldbußen. Im Falle Deutschlands sind dies bis zu zehn Milliarden Euro, bei Frankreich bis zu 7,5 Milliarden Euro.
Standpunkt der EU-Kommission
Die EU-Kommission bezeichnet den Beschluss der EU- Finanzminister vom Ende November, die Defizit-Strafverfahren gegen Deutschland und Frankreich vorerst auf Eis zu legen, als illegal. Den Hausjuristen der Kommission zufolge bleibt der umstrittene Beschluss der obersten Kassenhüter der EU jedoch so lange gültig, bis er möglicherweise von den Luxemburger EU-Richtern gekippt wird. Deshalb strebt die Kommission ein Eil-Verfahren gegen den EU-Ministerrat vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) an.
Der Kommission geht vor allem darum, dass die in der EU seit Jahrzehnten üblichen Verfahren eingehalten werden, weniger um inhaltliche Argumente wie die Sparauflagen für Paris und Berlin. Die EU-Behörde argumentiert, die Finanzminister hätten erklären müssen, warum sie am 25. November nicht den von der Kommission vorgeschlagenen verschärften Sparauflagen für Frankreich und Deutschland zustimmten. Die Kommission hält zudem den Beschluss der Aussetzung selbst für rechtlich angreifbar, da dieser nicht im EU-Recht vorgesehen sei.
Die Kommission will vor allem Klarheit gewinnen für ihre Aufgabe der Budgetüberwachung in der Union. Sie meint, sie könne derzeit kaum noch strengere Sparauflagen innerhalb der Defizit-Strafprozedur vorschlagen, ohne dass nicht betroffene Staaten nach einer Extra-Behandlung à la Berlin und Paris fragen. Die EU-Behörde stellt sich auch auf den Standpunkt, dass die laufenden Defizit-Strafverfahren gegen Frankreich und Deutschland nicht ausgesetzt, sondern auf dem Stand vom Sommer vergangenen Jahres angehalten sind.
Damals hatten sich Berlin und Paris verpflichtet, die Maastrichter Defizit-Grenze von drei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) schon 2004 wieder einzuhalten. Am 25. November war der Einhalte-Termin auf 2005 verschoben worden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Kommission in den kommenden Monaten im Rahmen der Haushaltsüberwachung neue Sparauflagen an Paris und Berlin verabschiedet.
Standpunkt des Ministerrats
Der Ministerrat beruft sich laut seiner Hausjuristen vor allem auf eine «Kann»-Bestimmung im entscheidenden «Defizitparagraphen» des EU-Vertrages, dem Artikel 104. Demnach kann - und nicht «muss» - der EU-Finanzministerrat beschließen, einen Mitgliedstaat zum Defizitabbau in Verzug zu setzen. Der Ministerrat hat hier nach eigener Auffassung einen erheblichen Ermessungsspielraum und muss nicht den Vorschlägen der Kommission folgen.
Hausjuristen des EU-Ministerrates bemängeln jedoch, der Finanzministerrat hätte seines Beschlüsse nicht in einer Weise fällen dürfen, die in den EU-Verträgen nicht vorgesehen sei. Die Finanzminister hätten laut Artikel 104 durchaus die Möglichkeit gehabt, die Spar-Empfehlungen der EU-Kommission zurückzuweisen. Die Verabschiedung eines gänzlich neuen Textes, der neue Sparzusicherungen von Paris und Berlin enthält, sei jedoch nicht in den Verfahrensabläufen vorgesehen.
Zeittafel
31. Januar 2002: Die EU-Kommission schlägt angesichts einer hohen
Neuverschuldung Defizit-Frühwarnungen, so genannte Blaue Briefe, für
Deutschland und Portugal vor.
12. Februar 2002: Die EU-Finanzminister verschonen Deutschland und
Portugal vor der Zustellung der Blauen Briefe. Deutschland sichert
zu, die Defizit-Obergrenze des Euro-Stabilitätspakts von drei Prozent
des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht zu überschreiten und den nahezu
ausgeglichenen Haushalt 2004 zu erreichen. Später werden diese
Erklärungen Makulatur.
25. Juli 2002: Die Kommission leitet gegen Portugal ein
Defizitverfahren ein, nachdem die Regierung in Lissabon für 2001 ein
überhöhtes Defizit von 4,1 Prozent vom BIP bestätigt hat.
17. Oktober 2002: EU-Kommissionspräsident Romano Prodi bezeichnet
den Stabilitätspakt zur Absicherung des Euro als «dumm» und zu
unflexibel. An der Handhabung des Paktes ändern diese Bemerkungen
aber nichts.
5. November 2002: Die EU-Finanzminister bestätigen das Verfahren
gegen Portugal.
13. November 2002: Die Kommission bringt das Defizitverfahren
gegen Deutschland auf den Weg. In der Herbstprognose erwartet Brüssel
nun eine Neuverschuldung von 3,8 Prozent vom BIP für 2002.
8. Januar 2003: Die Kommission verlangt von Berlin sofortige
Maßnahmen zur Rückführung des Defizits unter die Obergrenze von drei
Prozent.
16. Januar 2003: Das Statistische Bundesamt veröffentlicht
offizielle Angaben zum deutschen Haushaltsdefizit 2002. Die
Neuverschuldung betrug 3,75 Prozent.
21. Januar 2003: Die EU-Finanzminister bestätigen das
Defizitverfahren gegen Deutschland und schicken Frankreich als erstem
EU-Land einen Blauen Brief wegen des für 2003 erwarteten Defizits.
29. August 2003: Jetzt ist es amtlich: Deutschland wird 2003 im
zweiten Jahr in Folge die Defizit-Obergrenze des Stabilitätspakts von
drei Prozent des BIP durchbrechen. Bundesfinanzminister Hans Eichel
meldet ein voraussichtliches Defizit von 3,8 Prozent des BIP nach
Brüssel.
25. November 2003: Mit der Aussetzung der Defizit-Verfahren gegen
Deutschland und Frankreich stürzen die EU-Finanzminister den
Stabilitätspakt in eine tiefe Krise. Die Minister verpflichten beide
«Sünder» ohne Strafandrohung zum Sparen. Beide Länder werden 2004 zum
dritten Mal die Defizit-Obergrenze von drei Prozent des
BIP überschreiten. Die EU-Kommission will rechtliche Schritte gegen
den Ministerbeschluss prüfen.
31. Dezember 2003: Eichels Ministerium räumt erstmals ein, dass
mit dem Steuerkompromiss und geringer als geplant ausgefallenen
Kürzungen etwa bei Eigenheimzulage und Pendlerpauschale auch 2005 die
Einhaltung der Defizitgrenze schwieriger wird. Berliner
Regierungskreise halten die Gefahr für «ziemlich groß», dass
Deutschland 2005 zum vierten Mal in Folge gegen den Stabilitätspakt
verstößt.